
Ich schaue aus dem Wohnzimmerfenster und sehe Dünen. Ich schaue aus dem Küchenfenster und sehe Dünen. Ich schaue aus dem Kinderzimmerfenster und sehe noch mehr Dünen. Ich schaue aus dem Flurfenster und sehe eine große Dünenwand, die sich direkt vor mir auftürmt. Soweit das Auge reicht nur Dünen. Vier Jahre lang haben meine Familie und ich mitten in den Dünen auf Sylt gelebt. Der nächste Nachbar über 500 Meter weit entfernt, der nächste Strand nur einen Steinwurf. Mit einem Kind sind wir eingezogen, mit drei Kindern wieder ausgezogen. Im Sommer hörten wir Kinderlachen, ankommende Reisebusse und das Schaben von Stühlen auf Linoleumboden. Im Winter lauschten wir der Stille, dem Sturm und dem endlosen Pfeifen des Windes.

Seitdem ich um die Welt gereist bin, war es mein Traum, einmal ein Hostel zu leiten. Seitdem ich auf Surferpartys auf Sylt getanzt habe, war es mein Traum, einmal auf dieser Insel zu wohnen. Und wie es mit dem Universum und Wünschen so ist, haben diese beiden Träume eines Tages in einer Jugendherberge im Süden von Sylt zusammengefunden.
Mein Mann und ich waren für zwei Jugendgästehäuser verantwortlich. Das große Haupthaus, eine ehemalige Kaserne, lag wie ein großes Schlachtschiff direkt neben dem exklusiven Golfplatz in Hörnum Nord. Hier befanden sich unser Büro, die Großküche sowie Betten für 148 Gäste. Cirka 800 Meter in nordöstliche Richtung schmiegte sich unser kleineres Jugendgästehaus an eine Dünenkante. Im Wirtschaftsgebäude des Möwennests lag die Hausleiterwohnung. Hier oben fühlten wir uns geborgen und sicher. Wie auf einem kleinen Schiff in einem Meer voller Dünen. Manchmal wünschte ich mir, die Wände des Möwennestes könnten zu mir sprechen. Mir Geschichten von den unzähligen Stürmen, denen sie standgehalten haben, erzählen. Und mir verraten, wie es all den Menschen ergangen ist, die hier vor uns mitten in den Dünen gewohnt haben.

Es ist Mitte Januar. Im Halbdunkeln gehe ich zu meiner Büroschicht in das Haupthaus. Der Wind heult unerbittlich um das große Gebäude. Die langen Flure sind leer, nur in meinem Büro und in der Hausmeisterwohnung brennt Licht. Ich beantworte E-Mails von Lehrern und buche für ihre Klassen Wattwanderungen, Leuchtturmbesuche und Wellenreitkurse. Schaue mir die Buchungszahlen für die kommende Saison an und werde von einem Gefühl der Surrealität überkommen. Der Sommer ist noch weit weg. Und die Stille im Haus unüberhörbar. Ich knipse das Licht aus, verriegele gewissenhaft den Haupteingang und verlasse schnellstmöglich den ungemütlichen Windkanal zwischen den Häusern. Mittlerweile ist es stockduster. In den Dünen gibt es keine Straßenlaternen. Nur der Hörnumer Leuchtturm blinkt unbeeindruckt in die winterliche Inseldunkelheit. Raschen Schrittes laufe ich Richtung Möwennest. Irgendwo in den Dünen sehe ich bunte Lichter in den Fenstern tanzen. Heute ist Freitag und Zeit für die Familiendisco. Jeder darf sich sein Lieblingslied wünschen. Mitten in den Dünen stört man keine Nachbarn.

Sechs Monate später. Bestimmt lasse ich meine Fahrradklingel schellen. Es ist Ebbe und eine große Traube Wattwanderer strömt mit kurzen Hosen und schwarzen Füßen die Düne neben dem Möwennest herunter. In der Menge erspähe ich meinen Mann. Verschwitzt zieht er den Bollerwagen mit unseren Kindern hinter sich her. Die Mittagsstunde im Dünenschrebergarten ist vorbei. Der einzige Platz in Hörnum Nord mit Schatten. Unsere Kinder stürmen in die Hauswirtschaftsküche und stauben ein paar Apfelstücke ab. Mein Mann und ich machen Schichtwechsel und Lagebesprechung: Die Zimmer sind sauber, die Lehrer zufrieden und die Grillplätze für heute Abend vorbereitet. Ich habe Feierabend. Und überlege, an welchen Strand ich gehen soll. Jeden Tag dieselbe Frage. Heute entscheide ich mich für den Weststrand. Genieße die Weite und die Wellen. Am Strand ist immer alles gut. Die Sonne steht tief und die Kinder bekommen Hunger. Im Sommer gibt es kein Abendbrot, im Sommer gibt es Strandbrot. Nach dem Essen laufen wir über Bohlenwege und Dünenpfade wieder gen Osten. Dumpfe Hip-Hop-Bässe schallen durch die Dünen und heller Rauch steigt in den Abendhimmel. Im Möwennest brummt der Bär. Die Berliner Schüler haben ein paar Grillwürste übrig gelassen. Und spielen noch eine Runde Basketball mit unseren Kindern. Mein Mann kommt nach Hause und fährt gleich wieder weg. Im Haupthaus hat ein Schüler den Feueralarm ausgelöst, die Hörnumer Feuerwehr ist auf dem Weg. Irgendetwas brennt immer. Ich bringe die Kinder ins Bett. Mit sandigen Füßen und salziger Haut schlafen sie ein. Und träumen von einem neuen Tag. Mitten in den Dünen.
Möchtet ihr auch einmal mitten in den Dünen wohnen? Das Jugendgästehaus Möwennest kann auch von Familien und Einzelreisenden gebucht werden. Mehr Informationen findet ihr bei Freizeit und Bildung am Meer.
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