Inselbuch: Ozelot und Friesennerz – Roman einer Sylter Kindheit

Bild vom Buch "Ozelot und Friesennerz" mit Sandhintergrund

„Wie alle Sylter bin ich in der ‚Nordseeklinik‘ bei auflaufendem Wasser auf die Welt gekommen. Direkt hinter der Düne. Auf Sylt kommen die Kinder immer mit der Flut. Setzten die Wehen ein, überprüfte die Hebamme erst einmal den Gezeitenkalender. Lief das Wasser ab, hatten alle noch eine Menge Zeit. Ob das jetzt genauso ist, wenn man auf dem Festland geboren wird, weiß ich gar nicht. Die Babys kommen ja jetzt aus Flensburg. Ob die auch mit der Flut rausgespült werden? Haben Säuglinge, die an der vergleichsweisen zivilisierten Ostsee zur Welt kommen, denselben Respekt vor der Unberechenbarkeit des Meeres wie wir? Spüren sie die Gefahr des lauernden Untergangs? Gehören sie noch zu unserer Schicksalsgemeinschaft?

Seite 10

Es gibt einige Bücher, die ich vom ersten Augenblick an nicht aus den Händen legen kann und die mich beim Lesen in einen regelrechten Flow-Zustand versetzen. Während andere, auch ganz hervorragende Bücher in meinem Regal Staub ansammeln und manchmal sogar über Monate um meine Aufmerksamkeit „betteln“ müssen, lasse ich bei diesen speziellen Büchern alles links liegen, fange sofort an zu lesen und kann bis zur letzten Seite kaum aufhören. Bücher mit dieser magnetischen Anziehungskraft haben vor allem eines gemeinsam: einen hohen Identifikationsgrad –und das am besten sowohl in Bezug auf die Gefühle, die Thematik als auch die Lebenswelt.

„Geschäft, Familie, Freunde und Gäste sind eins. Wie überall bei allen. Das hat etwas Auslaugendes. Und ist gleichzeitig die Grundlage für einen überdurchschnittlichen Umsatz.“

Seite 164

Und so ist es auch nicht erstaunlich, dass mich das Buch „Ozelot und Friesennerz – Roman einer Sylter Kindheit“ von Susanne Matthiessen in einem Rutsch verschlungen habe. Denn genau wie ich ist die Autorin ein waschechtes Inselkind und auf einer Nordseeinsel geboren und aufgewachsen. In ihrem Buch nimmt Matthiessen uns auf eine Reise in ihre Kindheit auf das Sylt der Siebzigerjahre mit. In acht Kapiteln beschreibt sie skurrile Inselanekdoten rund um das exklusive elterliche Pelzgeschäft in der Friedrichstraße von Westerland. Nach dem Wirtschaftsaufschwung der Sechzigerjahre boomt der Tourismus auf der Insel. Bei den Einheimischen herrscht regelrechte Goldgräberstimmung, Kinderzimmer werden im Sommer kurzweg in Gästezimmer umgewandelt und exzentrische Promis besiedeln Strände, Restaurants und Dünentäler.

„Was die Frauen anging, so schrieb das Bürgerliche Gesetzbuch für das Festland damals allen Ernstes vor: Wollte eine Frau arbeiten, musste das vom Ehemann erlaubt werden. (Und das galt noch bis 1977). Aber in Westerland war es schon immer umgekehrt. Wollte eine Frau nicht arbeiten, musste das ihr vom Ehemann erlaubt werden.“

Seite 48

Für die Inselkinder bedeutet das vor allem, dass sie während der Saison zu funktionieren haben und sich dabei auf einem schmalen Grad zwischen Vernachlässigung und Freiheit bewegen. Denn auf Sylt arbeiten die Frauen hart: Als clevere Geschäftsfrauen, Hoteliers und Bankchefinnen halten sie Sylt am Laufen und legen somit den Grundstein für den Reichtum der Insel. Von ihrer äußerst beschäftigten und geschäftstüchtigen Mutter sowie ihrer divenhaften Großmutter mit Repräsentationspflichten und esoterischen Anwandlungen lernt die Autorin dann auch die wichtigsten Fertigkeiten eines Sylter Kindes: das elegante Sektflaschenöffnen und den unfallfreien Tortentransport für besonders wichtige Kunden, die freundliche Gästebetreuung und das Entschlüsseln geheimer Codes beim Geschäftemachen sowie das führerscheinlose Autofahren und den korrekten Verzehr von Miesmuscheln.

„Der Alkohol. Überall zu viel. Überall wird ständig nachgeschenkt. Überall wird gefeiert. Polizeikontrollen gibt es nicht. Aber meine Eltern halten sich demonstrativ zurück. Die Sylter brauchen einen klaren Kopf, wenn alle anderen benebelt sind.

Seite 144

In episodenhaften Skizzen lässt uns die Autorin an amüsanten Geschichten und Klatsch und Tratsch aus ihrer Sylter Kindheit teilhaben. Hier geht es unter anderem um einen unglaublichen Kidnappingversuch, inselweit gefürchtete Feuerteufel, Tode im Pelzmantel, luxuriöse Modebälle, wilde Strandpartys, dubiose Wunderheiler sowie prominente Kunden mit ausgefallenen Wünschen. Die persönlichen Anekdoten, die alle auf wahren Begebenheiten beruhen, sind bisweilen so auf die Spitze getrieben, dass man sie kaum glauben mag. Aber wir sind immerhin auf Sylt – und im deutschen St. Tropez geht es ja wie bekannt etwas schriller, dekadenter, bunter, prominenter und dramatischer als im Rest der Republik zu.

Arbeiten wo andere Urlaub machen zieht nicht mehr, weil man sich immer ein Wohnen, wo andere ihren Heizungskeller haben, mitdenken muss.“

Seite 235

Während die Autorin uns mit ihren humorvollen und unterhaltsamen Kindheitserinnerungen im Hauptteil des Buches zum Schmunzeln bringt, schlägt sie im Pro- und Epilog kritischere Töne an und beleuchtet die aktuellen Auswirkungen und Probleme des Tourismus auf der Insel: Die Sylter Natur wird ausverkauft, bezahlbarer Wohnraum für Insulaner ist knapp, es herrscht Fachkräftemangel, einheimische Privatvermieter stehen in Konkurrenz zu großen Konzernen und über den Hindenburgdamm rattern immer noch umweltschädliche Diesellokomotiven. Nüchtern und beobachtungsscharf schildert Susanne Matthiessen die großen Herausforderungen, vor denen ihre Heimatinsel steht. Und trifft dabei mit ihren Worten den Kopf auf den Nagel.

„Wenn einer die Insel quält, dann quält er auch mich.“

Seite 9

Für mich macht genau diese Kombination aus kritischen und kurzweiligen Elementen den großen Reiz des Buches aus. Authentisch, scharfsinnig und mit einem sympathischen Witz gelingt es Susanne Matthiessen, uns einen Einblick in das Inselleben zu gewähren, wie es wirklich ist. Ihre Beobachtungen sind klug und treffend, ihre Charaktere lebendig und unterhaltsam und ihre Statements eindringlich und relevant. Weit weg von typischen Inselklischees mit kitschigen Sonnenuntergängen, romantischen Strandkorb-Dates oder an den Haaren herbeigezogenen Kriminalfällen mit trotteligen Inselpolizisten. Ob mich das Buch allerdings genauso in den Bann ziehen würde, wenn es in einem Wintersportort in den Bayrischen Alpen spielen würde? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Viele Herausforderungen der Lokalpolitik und der touristischen Infrastruktur sowie die Zeitqualität lassen sich bestimmt übertragen. Aber letztendlich ist es doch der hohe Wiedererkennungsfaktor bei dem faszinierenden Blick hinter die Kulissen der verrückten Insel Sylt, der mich gefesselt hat. Ich fühle die Heimatliebe der Autorin, schwelge in eigenen Kindheitserinnerungen, teile die Sorgen um meine Heimatregion und werde mich wohl auch immer noch als Teil einer insularen „Schicksalsgemeinschaft“ sehen, obwohl ich seit Jahren nicht mehr auf meiner Heimatinsel wohne. Oder wie Matthiessen es sagt:

„Ich bin und bleibe Mitglied einer bizarren Schicksalsgemeinschaft. Und das habe ich inzwischen akzeptiert und meinen Widerstand endgültig aufgegeben. Ich bin Mitglied eines Vereins, aus dem man sich nicht rausmelden kann. Ich bin auf Sylt geboren – und deshalb automatisch mit der ganzen Insel verwandt. So eine Art Blutbrüderschaft. Manchmal kommt es mir aber eher vor wie eine Sekte.

Seite 7

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Das Buch…

…erinnert mich sowohl an meine eigene Inselkindheit als auch an Geschichten aus der Kindheit meines Vaters. Auch ich half schon von klein auf im Familienbetrieb und hielt bei Sturm wie wohl jedes Inselkind ganz selbstverständlich die Autotür „mit eisernem Klammergriff“ fest. Auch mein Vater musste im Sommer wochenlang sein Kinderzimmer räumen und in den Hühnerstall ziehen, um Platz für die Gäste machen. Und auch meine Oma stolzierte in meiner Kindheit als Seniorchefin mit ihrem Seehundfellmantel in unserem Betrieb auf und ab und brachte mir von Pike auf den richtigen Umgang mit Stammgästen bei. Diese kamen zuverlässig über vierzig Jahre lang jeden Sommer, gerne sechs Wochen am Stück, und gehörten somit fast zur Familie – aber eben nur fast. Denn auf eine gewisse Distanz legte auch meine Oma stets großen Wert.

…macht Lust auf eine Wochenendreise nach Westerland. Gerne mit Übernachtung in dem im Buch erwähnten Hotel Wünschmann, einem ausgiebigen Bummel durch die Friedrichstraße und einem Spaziergang entlang der Strandpromenade. Meinetwegen auch mit einem nostalgischen Kurkonzert in der Muschel – aber höchstens für fünf Minuten.

…macht Hunger auf ein köstliches Stück Sahnetorte vom Café Wien, genau wie für die exklusiven Kundinnen,…

und Durst auf ein prickelndes Glas Sekt im Café Orth. Hier sind die Stühle perfekt in Blickrichtung ausgerichtet und man kann wunderbar das bunte Treiben auf der Friedrichstraße beobachten. Egal zu welcher Jahreszeit draußen sitzen und bloß nicht die Sonnenbrille vergessen!

…regt zum Lesen des zweiten Buches von Susanne Matthiessen an: „Diese eine Liebe wird nie zu Ende gehen – Roman einer Sylter Jugend“ an. Das Buch ist im März 2022 im Ullstein Verlag erschienen.

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Ozelot und Friesennerz

– Roman einer Sylter Kindheit

von Susanne Matthiessen

Ullstein 2020, 245 Seiten

4 Kommentare zu „Inselbuch: Ozelot und Friesennerz – Roman einer Sylter Kindheit

  1. Das hört sich nach einem Buch voll Humor und Herzenswärme an. Ich war einmal auf einer Klassenreise auf Sylt. Wir müssen damals 11-12 Jahre alt gewesen sein. (Ich stamme aus Hamburg.) Für uns war das eigentlich immer die Insel, wo die Reichen Urlaub machten, wir anderen fuhren nach Amrum … haha, so ist das mit Vorurteilen. Die Klassenfahrt war jedenfalls toll!

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    1. Haa, eine ganz hervorragende Wahl mit Amrum – unabhängig vom Geldbeutel! Amrum ist meine Heimatinsel und für mich daher in jeglicher Hinsicht die absolute Lieblingsinsel! Aber schon als Kinder haben wir immer halb verstohlen und ein wenig fasziniert auf die exzentrische Nachbarinsel im Norden herübergeschaut. Und so habe ich auch ein paar Jahre auf Sylt gelebt und durfte auch hier einen Blick hinter die Kulissen werfen. Viele Vorurteile haben sich bestätigt, viele neue Blickwinkel wurden gewonnen. Und daher wird auch Sylt wird immer einen Platz in meinem Herzen haben. Liebe Grüße aus Schweden!

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      1. Oh, wie schön, Dänemark! Meine Kinder haben während unsere Zeit auf Sylt den dänischen „børnehave“ in Westerland besucht. Mittlerweile wohnen wir aber auf der wunderbaren Insel Gotland in Schweden.

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