Sardinien: Auf der Suche nach blühenden Zitronen

Dramatischer Meerblick auf Sardinien

Während ich einen ganzen dunklen und kalten Stockholmer Winter lang in einem kleinen Kämmerchen einsam meine Diplomarbeit tippte, wuchs in mir eine unermessliche Sehnsucht nach Lebensfreude, Entspannung, Vergnügen und Genuss. Je mehr Seiten sich vor mir auf meinem Bildschirm füllten, desto stärker dürstete ich nach Frühlingssonne in meinem Gesicht, köstlichem Essen auf meinem Teller und Meeresrauschen in meinen Ohren. Und als ich dann an einem grauen Märztag endlich meinen Hochschulabschluss in den Händen hielt, machte ich mich mit blassem Gesicht und dunkel umschatteten Augen auf den direkten Weg zum Flughafen. Bei der Auswahl des Reisezieles ließen mein Freund und ich uns, wie damals üblich und heute fast undenkbar, von den aktuellen Ryan-Air-Flugrouten inspirieren. Und so landeten wir dann ganz spontan auf Sardinien. Denn Inseln sind immer gut. Und schon meine Eltern schwärmten nach einem Besuch dieser karibisch anmutenden Mittelmeerinsel in den Siebzigerjahren von smaragdgrünem Wasser, feinen Sandstränden, italienischem „Dolce Vita“ und romantischen Hafenrestaurants mit dem allerbesten Fisch, den sie jemals gegessen hätten. „Wirklich Weltklasse!“ murmelte mein Vater noch dreißig Jahre später, tief versunken in Erinnerungen an seine sardinischen Gaumenfreuden.

Mit kribbeliger Vorfreude checkten wir also in unserem kleinen Stadthotel in der Inselhauptstadt Cagliari ein. Unsere Jacken und Wollstrümpfe von der Reise ließen wir vorsichtshalber erst mal an, denn der Fliesenboden war empfindlich kalt, aus dem nach Norden ausgerichteten Fenster zog es unerbittlich und die Hausfassade auf der anderen Seite der engen Gasse ließ nicht den winzigsten Sonnenstrahl durch. Fest entschlossen uns nicht vom ersten Eindruck in das Bockshorn jagen zu lassen, gaben wir unserer Müdigkeit nach und kuschelten uns unter das einfache Laken, das uns als Bettdecke dienen sollte.

Am nächsten Morgen wurden wir in aller Herrgottsfrühe von dröhnendem Scheppern, wütenden Hupen und knatternden Motoren aufgeweckt. Das Müllauto kämpfte sich durch das enge Straßenwirrwarr vor unserem Hotel und sorgte mit seinen Blockaden für ein Überschäumen italienischer Gemüter. Wir nutzten die Chance, zeitig in unseren Urlaubstag zu starten und gingen hinunter in den Frühstückssaal. Geblendet vom grellen Neonlicht bahnten wir uns unseren Weg zum Kaffeeautomaten und schaufelten unsere Teller mit in Plastik verpackten Backwaren voll. Der Kaffee war viel zu wässrig, der Kuchen viel zu süß, aber wir waren mit einem stoischen Optimismus ausgerüstet. In weiser Voraussicht packten wir unsere Jacken und Wollmützen in den Rucksack und gingen auf Stadterkundung. Wie in der Pre-Smartphone-Ära noch möglich liefen wir planlos durch die verschlafene Stadt. Als wir frierend am verlassenen Stadtstrand ankamen, schauten wir uns und der bitteren Realität in die Augen. Ganz offensichtlich hatten wir bei unseren Recherchen zur optimalen Reisezeit geschludert und waren mitten in der Nebensaison auf Sardinien gelandet. Auch die Einheimischen schienen fast überrascht zu sein, uns zu sehen. Und uns beschlich immer mehr das Gefühl, dass wir sie in ihrer einträchtigen Nebensaison-Insulaner-Gemeinschaft störten. 

Aber wir gaben nicht auf. Am Abend spazierten wir frohen Mutes zum Hafen. Denn hier wartete ja schließlich noch ein romantisches Kerzenscheindinner, der hochgelobte Fisch sowie das süße italienische Leben auf uns. Frischen Fisch gebe es heute leider nicht, teilte uns der Kellner mitleidig mit, aber er könne uns Spaghetti Bolognese anbieten. Resigniert nahmen wir sein Angebot an, starrten auf die gähnend leeren Nachbartische, ignorierten die ungemütliche Beleuchtung und nippten widerwillig an dem nach Pulver schmeckenden Instant-Cappuccino.

Am nächsten Tag machten wir einen Ausflug, um die Insel zu erkunden. Ohne Karte, ohne Orientierung, ganz spontan und abenteuerlich. Wir landeten in einem malerischen Dorf, das sich an eine Klippe schmiegte und spektakuläre Blicke auf das Meer bot. Während wir durch die gepflasterten Gassen wanderten und die steilen Treppen hinaufstiegen, fühlten wir uns wie in der Filmkulisse von „Chocolat“: Der Wind heulte gespenstisch zwischen den Häusern, die Fensterläden klapperten in einem eigenwilligem Takt und die streunenden Katzen warfen uns misstrauische Blicke zu.

Wir brauchten dringend eine Pause von unserem Urlaub und fanden am menschenleeren Strand einen idyllischen Platz für unsere Hängematte. Erschöpft schlossen wir die Augen und atmeten tief durch. Doch das Glück währte nicht lange. „Documenti, documenti!“. Fassungslos starrten wir zwei Polizisten an und kramten hastig unsere Pässe aus den Taschen. Nachdem wir die Sache mit den „documenti“ nach einigem Hin und Her geklärt hatten, wuchs unsere Sehnsucht nach richtig guten „cappucini“ ins Unermessliche. Nur wo zum Teufel waren die zu finden?

Es war zum Verzweifeln und wurde nicht viel besser. Für den Rückweg wählten wir eine Strecke durch das Gebirge und kamen uns wie in den schottischen Highlands vor. Hier erinnerte nichts, aber auch gar nichts an den italienischen Frühling und das „Land, wo die Zitronen blühen“*. Auch vom sanften Wind, der vom blauen Himmel weht, war weit und breit nichts zu spüren. Im Gegenteil: Die tiefschwarzen Regenwolken hingen bedrohlich tief, die grausilberne Nebelschwaden versperrten die Sicht und selbst die sardinischen Bergziegen sahen übelgelaunt aus.

Um es vorwegzunehmen: Es gibt kein Happy End. Auch im restlichen Urlaub haben wir die blühenden Zitronen nicht mehr gefunden. Es hat zwischen uns und der Insel kein Klick gemacht; der Funke ist nicht übergesprungen. Aber ich liebe Inseln und möchte so gerne an mich und Sardinien glauben. Und frage mich daher immer noch: Wo gibt es auf der Insel das viel gepriesene Essen, das glasklare Wasser, die bilderbuchhaften Sandbuchten und die zauberhaften Hotels? Wie finde ich das Glück der Hundertjährigen? Und wann sollte ich dieser beliebten Mittelmeerinsel am besten einen Besuch abstatten?

Ich lasse mich gerne inspirieren. Und wer weiß? Vielleicht mache ich mich eines Tages nochmal auf die Suche: nach fangfrischem Fisch, schmackhaften Cappuccino, dem süßen Leben und natürlich den blühenden Zitronen.

* Aus: Mignon (Kennst du das Land, wo die Zitronen blühen?) von Johann Wolfgang von Goethe.

Zur Inspiration:

mareTV: Sardinien – Magische Insel im Mittelmeer.

NZZ Format: Sardinien – Insel der Hundertjährigen.

17 Kommentare zu „Sardinien: Auf der Suche nach blühenden Zitronen

    1. Ja, das war tatsächlich ein ungünstiger Zeitpunkt.

      Ich habe den „La Dolce Vita“- Begriff in meiner Vorstellung wohl etwas ausgedehnt und selbst interpertiert. Also nicht mit dem luxuriösen Leben im Fokus, sondern mehr mit einem Lebensgefühl, dass von Lebensfreude, Müßiggang, Gesellschaft und leckerem Essen geprägt ist. God påske nach Dänemark!

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  1. Liebe Malin, da hat es euch aber kalt erwischt …….März ist möglicherweise auch nicht die allerbeste Zeit und die Gegend um Cagliari möglicherweise auch nicht. Als Tipp, den ich möglicherweise als halbe Sardin kundtun darf, fahre in den Norden oder Nordosten/ Osten. Es gibt dort so viele wunderbare Plätze. Die Costa Smeralda beispielsweise, Golfo Aranci,……da sind wunderschöne Orte und die Küstenabschnitte sind sagenhaft, vor allem bekommst du da auch dein Dolce Vita, dein gutes Essen….ich kann folgende Ortschaften empfehlen: San Teodoro, Budoni, Posada, Orosei, Cala Gonone, oder im Norden mehr die spanisch anmutende Stadt Cannigione, Santa Teresa di Gallura oder im Nordwesten auch sehr spanisch, die Stadt Alghero. Wunderschön am Wasser, tolle Gassen, tolle Häuser, tolles Ambiente insgesamt mit sensationellem typisch sardischem Essen auch…..also Tipps hätte ich genug. Wenn du es noch mal versuchen möchtest, schreib mich doch privat an 😉 Liebe Grüße Manuela Und PS.: ich würde immer so sagen ab Ende April/Anfang Mai ist schön, der Sommer ohnehin (aber eher zum September hin) und ansonsten nochmal die Herbstzeit. Da ist es auch noch ziemlich warm.

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    1. Oh, wie toll, du hast sardinische Wurzeln. Hätte ich dich doch damals schon gekannt 😉! Ich danke dir ganz herzlich für deine Tipps – beim Lesen bekomme ich sofort wieder Lust, Sardinien noch eine Chance zu geben. Aber dann werde ich mich vorher bei dir melden. Denn tief in meinem Inneren glaube ich, dass die Insel ein echter Juwel ist. Und wir einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Cagliari und Anfäng März waren einfach keine gute Kombo. Liebe Grüße, Malin

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      1. Ja sardische Wurzeln und Sylter 😉 Du siehst, totale Insulanerin 😉 Ja melde dich einfach mal, natürlich ist Sardinien ein Juwel, das sage ich auch völlig uneingenommen. Das Wasser, die Landschaft sind für sich schon ziemlich begeisternd. Das Essen ist on top toll und ach ja…..das wird schon werden. Viele liebe Grüße Manuela

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  2. Sardegna muss wunderschön sein. Wohl nicht im März. 😉 Danke für die Warnung. Wir sind selbst noch nie dagewesen, auch weil es im August, in dem wir leider nur Urlaub machen können, dort so unverschämt teuer ist.
    Saluti da Italia, e Buona Pasqua!

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    1. Ja, es ist schon eine heikle Sache mit sowohl der Nebensaison als auch der Hochsaison. Günstig oder überteuert, verschlossene Türen oder überfüllte Strände. Aber oft gibt es dann ja auch noch die perfekten Zwischenzeiten (…, die dann nur mit Schulkindern leider oft nicht mehr möglich sind). Ich werde die Hoffnung auf jeden Fall noch nicht aufgeben und träume weiter von einem magischen Wiedersehen mit Sardinien … irgendwann. Jetzt erst mal: Frohe Ostern nach Italien!

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      1. Grazie! Ich drücke fest die Daumen und bin auch sicher, dass die Insel bei dir eine zweite Chance hat und dein Bericht dann ganz anders klingen wird. 😀 Hab auch schöne Ostertage!

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  3. Ist wohl tatsächlich nicht die Frage nach dem wo, sondern nach dem wann. Wir hatten ähnliche Erlebnisse auf Korsika im Oktober. Tote Hose, geschlossene Restaurants und zugige Strände. Aber viel Platz 😂😁

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  4. Ein Urlaub in der Neben- oder Zwischensaison kann ein wunderbares Erlebnis sein. Es ist schade, dass eure Reise diesmal nicht so richtig zum Traumurlaub wurde. Aber auf jeden Fall hat sie den persönlichen Horizont erweitert…

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