
Manchmal kann ich es kaum fassen, dass wir tatsächlich einmal hier gewohnt haben. Mitten in den Sylter Dünen, in unmittelbarer Nähe einer meiner absoluten Lieblingsplätze auf der Insel. Nur schnell aus dem Haus raus, dabei die Haustür stets gut festhalten (Vorsicht! Windböen), einmal scharf um die Ecke biegen, links die steile Düne hochstapfen und mit voller Fahrt auf der anderen Seite wieder runter zum „Alvastrand“ rennen. Ankommen, ausatmen und die Aussicht genießen.
Wahre Syltkenner werden sich jetzt vielleicht verzweifelt fragen, wo dieser mystische „Alvastrand“ eigentlich liegt? Und warum sie diesen nach nordischen Sagen klingenden Platz auf der Insel noch nicht gefunden haben? Wo sie doch ansonsten jeden Sandkorn, jede Strandbar und jede friesische Legende von ihrer Insel kennen? Die Erklärung ist simpel. Der „Alvastrand“ heißt natürlich nicht offiziell „Alvastrand“, sondern Möwenneststrand. Er schmiegt sich halbmondförmig an die Hörnumer Ostküste und befindet sich in unmittelbarer Nähe des Jugendgästehauses Möwennest, das wir vier Jahre lang unser Zuhause nennen durften. Und so kam es dann auch, dass diese feine, kleine Bucht sich für unsere Tochter Alva wie ein exklusiver Privatstrand anfühlte und wir diesem Empfinden dann auch irgendwann namentlich Ausdruck verleihen mussten.

Während wir den anderen Stränden in Hörnum, dem „Rote-Rutsche-Strand“ (= Oststrand) und dem Wellenstrand (= Weststrand Hörnum Nord) am liebsten abends Besuche abstatteten, so war der „Alvastrand“ für vormittags unsere bevorzugte Wahl. Zwischen abreisenden und ankommenden Gästegruppen, aufgeregten Lehrern und lebhaften Schülern, kleinen und großen Katastrophen fanden wir immer Lücken für unsere täglichen Strandbesuche. In Matschhose, Sommerkleid, Neoprenanzug oder Winteroverall gekleidet galt es jeden Tag die erste große Hürde zu überwinden: den hohen Dünenaufgang, der uns zu unserem kleinen Strandreich führte. Aus der Sicht meiner kleinen Tochter konnte die Besteigung der Hausdüne es locker mit dem Erklimmen des Mount Everest aufnehmen. Je nach Tagesform, Wetterbedingungen und Alter wurde munter gekrabbelt, ausdauernd gestreikt, lauthals protestiert, tapfer marschiert oder erfolgreich prokastiniert. Nach kurzer Zeit kannten wir jeden Dünengrashalm, jede Dünenkaninchenhöhle sowie jede Lücke im Dünenschutzstacheldrahtzaun.

Endlich am Strand angekommen pflegte Alva dann, ganz das Inselkind, routiniert ihren knallroten Blecheimer in den grobkörnigen Sand zu stellen, links freudig die duftenden Salzwiesen zu begrüßen, geradeaus fachmännisch den aktuellen Stand der Gezeiten zu checken und rechts sehnsuchtsvoll der Nachbarinsel Amrum zuzuwinken. Ob die Strandkorbvermieter in Norddorf wohl heute viel zu tun hätten? Nach ihrem Begrüßungsritual widmete sie sich hingebungsvoll ihrer eigenen Strandarbeit. Es wurde gebuddelt und gematscht, gesucht und gefunden und dabei stets der Strandaufgang im Auge behalten. Wer würde heute wohl über die Düne kommen? Meistens gab es da keine großen Überraschungen. Denn zuverlässig wie der Wechsel von Ebbe und Flut kamen im Frühling die Ornithologen, im Sommer die Wattwanderer, im Herbst die Kite-Surfer und im Winter keiner. Da gab es einzig und allein den bissigen Ostwind, die kreischenden Möwen, die kahlen Dünen, die blinkenden Muschelkutter, das winterliche Wattenmeer und uns beide. Mit roten Wangen, tief versunken in unsere Strandarbeit.

Eines schönen Frühlingmorgens wurden wir jedoch mit besonders netter Gesellschaft am „Alvastrand“ überrascht. Eine junge Frau mit zwei kleinen Kindern und einem Mann mit Aussie-Slang fielen mir sofort ins Auge. Unsere Kinder fanden in das Spiel und wir in das Gespräch. Innerhalb kürzester Zeit stellten wir fest, dass sie in Perth wohnte und wir einen gemeinsamen australischen Bekannten hatten, der mittlerweile eine Bäckerei in den Stockholmer Schären betrieb. Eine verrückte Geschichte, die aber noch besser wurde. Denn sie erzählte mir auch den Grund, warum sie ihre Familie vom anderen Ende der Welt über Tausende von Kilometern an genau diesen Ort geschleppt hatte: Sie wollte ihnen unbedingt „ihren“ Strand zeigen. Mit dem sich ihrer Meinung nach selbst die exotischsten Traumstrände Down Under nicht messen lassen könnten. Und der ihre Kindheit mehr geprägt hat als alles andere. Denn genau wie Alva wohnte sie als Kind einige Jahre mit ihren Eltern im Möwennest, hatte ihr kleines Bett mit Dünenblick unter der gleichen Dachschräge wie meine Tochter stehen, schlief auch mit dem heulenden Sturm als treuen Begleiter ein und spielte jeden Tag bei Wind und Wetter an „ihrem“ Strand. „Das war wirklich eine Kindheit ‚out the ordinary‘!“, strahlte sie mich zum Abschied an. „Wie wunderbar, dass deine Tochter das auch erleben darf.“

Ich stimme ihr voll und ganz zu. Und frage mich manchmal, ob Alva hier auf ihrer neuen Insel mitten in der Ostsee von Zeit zu Zeit an „ihren“ Strand mitten in der Nordsee denkt? Ob sie sich an den tiefschwarzen Schlick unter ihren Füßen erinnert? Und die vom Meersalz getränkte Luft in ihren Lungen vermisst? Ob sie den neonbunten Kite ihres surfenden Papas am Osthorizont wiedererkennen würde? Und den geheimnisvollen Tanz der Gezeiten noch in sich spürt? Ich denke schon. Aber um ganz sicher zu sein, haben wir in den vergangenen Herbstferien dem „Alvastrand“ einen Besuch abgestattet. Mühelos flog Alva mit ihren mittlerweile zehnjährigen langen Beinen über die Düne, hielt kurz auf dem Dünenkamm inne, rannte leichtfüßig auf der Ostseite an den Strand, schaute nach links, schaute geradeaus, schaute nach rechts. „Es flutet“, stellte sie nach einiger Zeit nachdenklich fest, schwieg anschließend eine Weile und sagte dann mit Nachdruck: „Das hier ist mein Strand. Für immer. Aber Mama, warum haben wir eigentlich meinen roten Eimer nicht mehr?“.

Hinkommen: Der Möwenneststrand liegt in Hörnum Nord. Entweder mit der Buslinie 2 bis zur Bushaltestelle „Hörnum Nord “ fahren oder mit dem Auto die Ausfahrt bei der Jugendherberge wählen und die kleine Straße Richtung Möwennest weiterfahren. Hinter der Einfahrt zum Kleingartenverein gibt es einen Parkplatz, direkt am Möwennest dürfen nur für Hausgäste parken. Vom Hörnumer Hafen aus gibt es einen schönen Spaziergang zum Möwenneststrand. Einfach am Hotel Budersand vorbeilaufen und nach dem Golfplatz direkt an den Strand abbiegen. Vom Möwenneststrand aus startet auch eine meiner Lieblingswanderungen auf Sylt, die ich unzählige Male mit meinen Kindern im Tragetuch gelaufen bin. Richtung Norden den Trampelpfad entlang der Hörnumer Nehrung bis zum Jugendzeltlager Strandläufernest gehen, anschließend die große Straße überqueren, über den Dünenweg an den Weststrand gelangen und hier Richtung Süden bis zum Strandübergang Hörnum Nord weiterlaufen. Dem Bohlenweg folgen, wieder die große Straße überqueren und nach Osten bis zum Möwennest gehen.
Hier gibt es noch weitere Insellieblingsplätze.
Wunderbarer Bericht! In der Nähe waren wir vor kurzem, als wir bei Wind und Wetter um die Hörnumer Odde gelaufen sind (Bericht folgt nach der Fotobearbeitung, einige Fotos aus Sylt habe ich schon gepostet).
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Herzlichen Dank für Deinen Kommentar. Eine Wanderung um die Hörnumer Odde ist auch immer unbeschreiblich schön. Da freue ich mich schon auf deinen Bericht und die Fotos. Und beim nächsten Sylt-Urlaub kann ich dir einen Besuch des Möwenneststrandes und eine anschließende Wanderung gen Norden sehr ans Herz legen.
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Danke. Sehr gerne besuche ich Sylt wieder einmal. Es ist allerdings schrecklich weit von unserem Wohnort München.
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Das stimmt leider! Weiter von München entfernt kann man in Deutschland wohl kaum sein … .
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Ich kann mich nur anschließen: wunderbarer Bericht! Für mich kommt der Beitrag gerade richtig an diesem kalten Berliner Dezembertag, weil er mich von Urlaub träumen lässt. So ist das nämlich, wenn man in einer Großstadt aufgewachsen ist und den Strand nicht vor der Haustür hat. Für mich sind solche Schilderungen immer mit dem Begriff Ferien verbunden und ich „beneide“ alle, die das Meer jeden Tag sehen können. Ich stelle mir das sehr wohltuend vor.
Ich finde, du hast das alles auch wahnsinnig gut aufgeschrieben und schöne Worte gefunden, der Text hat mich alles vor meinem inneren Auge sehen lassen. Deine Tochter, wie sie die Düne erklimmt, und wie sie jetzt mit langen Beinen über die Düne fliegt.
Wenn ich am Meer bin, bewegt mich immer eines ganz stark: wie gewaltig und schön die Natur ist und wie unvergänglich. Ich habe viele Urlaube meines Lebens auf Bornholm verbracht, ich stand als Kind am Strand oder auf der Düne, als Jugendliche, als Erwachsene, erst mit meinen Eltern, dann mit meinen Kindern. Selten bin ich so im Einklang mit mir wie am Meer.
Danke, dass du mit deinem Text all das für einen Moment hochgeholt hast (an diesem kalten Dezembertag).
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Ich danke dir für deine Rückmeldung. Wie schön, dass ich heute eine Meeressehnsucht in dir wecken konnte. Ich habe die letzten Wochen auch oft sehnsüchtig und mit einem warmen Gefühl in meinem Herzen an unsere Zeit auf Sylt und insbesondere unsere Winterstrandvormittage gedacht. Und obwohl wir hier das Meer auch fast direkt vor der Nase habe (ich bin selbst ein Inselkind und Wohnorte zu weit im Landesinneren haben nie besonders zu meinem Wohlgefühl beigetragen), so vermisse ich doch von Zeit zu Zeit die raue Wildheit der Nordsee und das einfache Leben, das wir dort in den Dünen geführt haben. Bornholm steht übrigens auch ganz oben auf meiner Inselurlaubswunschliste – obwohl meine Familie ein Sommerhaus in der Nähe von Ystad hat, habe ich es nie auf die Insel geschafft.
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Ich war als Kind mal auf Klassenreise auf Sylt, Westerland. Die Bilder haben mich in Erinnerungen schwelgen lassen. Aber dort leben könnte ich nicht, ich bin doch sehr ein Stadtmensch.
Traurig finde ich, dass die Sylter wegziehen müssen, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten können. Das ist der Preis, den die Sylter zahlen müssen, damit die Reichen sich ein Wochenendhaus in bester Lage kaufen können, und damit die Mieten nach oben treiben.
Dass sie damit auch das Personal verdrängen, die ihnen die Urlaubszeit so angenehm machen, ist leider viel zu spät verstanden worden.
Sylt ohne ihre Einwohner, ist ein abschreckendes Beispiel dafür, wenn nicht der Mensch, sondern nur Geld und Profit an erster Stelle steht.
Das ist leider heute mein Bild von Sylt.
Lg. Andrea
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Ich kann mir gut vorstellen, dass viele Menschen auf Dauer in unserer einsamen Haus in den Dünen einen Inselkoller bekommen hätten. Das ist wirklich nicht für jeden. Für unsere Dienstwohnung im Möwennest haben wir jedoch damals eine unglaublich geringe Miete bezahlt – so günstig haben wir davor und danach nie mehr gewohnt, Sylt hin oder her. Die Schattenseiten von Sylt, die sich um Geld, Macht, Privilegien und Ausbeutung drehen, haben wir aber natürlich auch hautnah mitbekommen. Zum Glück jedoch auch den immer lauter werdenden Widerstand der Sylter, die von den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen auf ihrer Insel tief erschüttert sind. Ich hoffe sehr für die Insel, dass sie in naher Zukunft in jeglicher Hinsicht wieder in ein besseres Gleichgewicht finden kann.
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Sehnsucht …. das Foto mit den zwei „Strandzwergen“ gefällt mir besonders gut … sie geniessen sichtlich ihr tun 🙂
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Vielen Dank! Die beiden Strandzwerge haben tatsächlich viele glückliche Stunden an diesem Strand verbracht ..
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Liebe Malin,
was für eine wundervolle und fast unglaubliche Geschichte….
ja.. die Nordseeinseln sind einfach alle miteinander (es muss nicht immer Sylt sein, welches ich inzwischen aber auch sehr liebe) gerade für Kinder ein Traum. Auch ich habe immer noch meine Sehnsuchts-Insel aus Kindertagen. Nämlich die niederländische Insel Texel. Ich glaube ich war in keinem Urlaub mit meinen Eltern so glücklich und es hat sich kein Reise-Ort bzw. Land so in meinem Kopf festgesetzt, wie diese Nordsee-Insel. Ja, der Wind, der Sand, die kleinen Bretterwege zum Strand… und und und. Einfach zu schön. Deine Bilder und Dein Bericht haben gerade wieder meine Erinnerungen aufleben lassen. Vielen Dank dafür!!
Liebe Grüße aus dem Wohnzimmer,
Amalie
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Jaa, die Nordseeinseln sind mit ihren unendlichen Stränden, den Wellen und der frischen Luft ein wahres Paradies für Kinder. Ich danke Dir für Deine Nachricht und sende dir liebe Grüße von der Ostsee!
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Welch schöner Bericht 👍
Ich bin auch teilweise auf einer Insel aufgewachsen, auf Öland in Schweden, bevor die Brücke gebaut worden war, und auf Gotland. Jetzt wohnen wir direkt am Meer in England. Wir könnten uns gar nicht mehr vorstellen anders zu wohnen.
Uns fasziniert immer noch die unendliche Weite der Sandstrände hier, die Seehunde und Kegelrobben und als ständige Begleiter die rufenden Seevögel.
Übrigens gibt es bei uns die gleiche Entwicklung wie sie es auf Sylt gab, es wird hier zum Spielplatz der Reichen, es ist zu einer der teuersten Gegenden in England geworden. Allerdings mit dem Unterschied, dass es hier absolut out ist, seinen Reichtum zu zeigen, ‚that’s proletarian, isn’t it?‘ Dennoch ist die Lebensqualität an unserer Küste so hoch, dass wir hier sicher bleiben werden.
Mit herzlichen Grüßen vom heute rauen Meer
The Fab Four of Cley
🙂 🙂 🙂 🙂
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Bescheidenheit ist auf Sylt vielleicht nicht so angesagt, aber das Meer ist wunderbar rau und wild und das ist ja irgendwie die Hauptsache. Ich habe mein Dünenleben auf der Insel, weitab vom Rummel, auf jeden Fall sehr genossen, lebe aber jetzt auch unglaublich gerne auf meiner Ostseeinsel . Und sowohl Öland als auch die englische Küste finde ich sehr reizvoll.
Bästa hälsningar från Gotland!
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Ich habe nie einen Fuß auf Sylt gesetzt (nicht aus Widerwillen, es hat sich nur nie ergeben), aber was für ein wunderzarter, anrührender Text. Jetzt würde ich mich gern sofort dorthin beamen. Und versuche, meinen Verleser „Lavastrand“ statt „Alvastrand“ aus dem Kopf zu bekommen. 🙂
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Herzlichen Dank für Deinen Kommentar. Als waschechte Amrumerin hatte ich mein halbes Leben lang einen gewissen Widerwillen gegen Sylt gehegt, „das schönste an Sylt ist der Blick nach Amrum, usw.“, aber die vier Jahre mitten in den Hörnumer Dünen haben mich eines besseren belehrt. Was für eine Erfahrung! Im Winter sind wir übrigens wie viele Sylter auf die Kanaren geflüchtet und haben dort den „Alvastrand“ tatsächlich gegen einen „Lavastrand“ auf Gomera eingetauscht. Passt also!
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Als Ostfriese hat es mich dann eher auf nähergelegene Eilande gezogen (am liebsten Schiermonnikoog auf der niederländischen Seite), Gomera und seine Lavastrände liebe ich aber auch… und die abgeschieden-wilden Ecken Teneriffas. Mein Schickimicki-Widerstand hat mich schon nicht nach Sylt lechzen lassen, aber für Jetset- Gäste kann die Insel ja wenig, und die gibt‘s hier ja auch, zumal ich eigentlich auf Klischees pfeife /)
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